L&DeepDive
UPDATED ON
22.5.2025
5
Min read

Zu schön, um wahr zu sein: Warum Lernmythen so überzeugend sind

Share this Article:
L&DeepDive Thumbnail mit Kolja Wohlleben

Warum halten sich Lernmythen so hartnäckig – und was macht Lernen wirklich effektiv? Kolja Wohlleben erklärt den Reiz von populären Lernirrtümern und zeigt, worauf es beim Lernen und Unterrichten wirklich ankommt.

Dass dieser Text geschrieben wurde, ist ein Wunder!

Menschen haben bekanntlich eine Aufmerksamkeitsspanne von 8 Sekunden: also genug, um einen halben Satz zu schreiben, bevor wir wieder etwas anderes machen müssen.

Jeder geschriebene Text, jedes gelesene Buch und jeder Teller gekochte Nudeln sind so im Grunde übermenschliche Anstrengungsleistungen: Alle 8 Sekunden müssen wir uns wieder überwinden, weiterzumachen. Selbst TikTok-Videos (im Schnitt eine halbe Minute lang) sind für unser Gehirn unglaubliche Kraftakte.

Natürlich ist die Behauptung, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne 8 Sekunden ist, Unsinn. 

Und obwohl die Behauptung so offensichtlich Unsinn ist, dass sie sich in unter 8 Sekunden Überlegung als solcher herausstellt, findet man sie überall: im Time Magazine, im Focus, sogar in der New York Times

Jedes Forschungsfeld ist voll von weit verbreiteten Falschbehauptungen:

  • Wir nutzen nur 10 % unseres Gehirns? Falsch.
  • Es dauert 10.000 Stunden, bis wir in etwas Experte sind? Falsch.
  • Glutamat ist gesundheitsschädlich? Falsch und rassistisch.  

Lernpsychologie ist – nach der Ernährungswissenschaft – wahrscheinlich das Fachgebiet, in dem sich unbelegte Mythen am hartnäckigsten und längsten halten. 

Die 4 Typen von Lernmythen

Lernmythen, wie eben die 8-sekündige Aufmerksamkeitsspanne, verbreiten sich gerade deshalb so erfolgreich, weil die Faktoren, die sie attraktiv machen, gleichzeitig die Gründe sind, aus denen sie falsch sind: Sie klingen überraschend, sprechen unser Ego an und machen die Welt einfacher als sie ist. Besonders erfolgreich sind dabei vier Typen von Lernmythen.

Der „Schockierender-Fakt-Mythos“

Die 8-sekündige Aufmerksamkeitsspanne gehört zum Typ „Schockierender-Fakt-Mythos“: Diese Aussagen sind deswegen so erfolgreich, weil sie uns Material geben, um Präsentationen mit einem überraschenden „Wussten Sie eigentlich, dass…?“ zu eröffnen, das meistens unhinterfragt bleibt.

Wenn es sich dann, wie bei den 8 Sekunden, um eine vermeintlich negative Entwicklung handelt, bekommt das Publikum hier die Gelegenheit, ernst zu schauen und gemeinsam den Verfall unserer Welt/Jugend/Gesellschaft zu betrauern. 

Der „Runde-Zahl-mit-Graph-Mythos“

Eine weitere Kategorie ist der „Runde-Zahl-mit-Graph-Mythos“: Hier wird die Welt mit einfachen Zahlen (am besten Vielfache von Zehn) erklärt und in einem übersichtlichen Graph verpackt. Am bekanntesten ist wahrscheinlich die Lernpyramide: Wir erinnern uns an 10 % dessen, was wir lesen, 50 % dessen, was wir diskutieren, aber 90 % dessen, was wir anwenden oder anderen erklären. 

Die Lernpyramide: Einfach, aber eben auch einfach falsch.

Der wahre Kern – dass wir uns meist besser an etwas erinnern, mit dem wir uns aktiv auseinandersetzen – ist leider zu offensichtlich, sodass mit Graphen und Zahlen wissenschaftliche Präzision suggeriert wird, wo keine ist. 

Behält ein durchschnittlicher Mensch, der ein Lehrbuch über Teilchenphysik liest, wirklich ganze 10 % des Inhalts, obwohl er 0 % versteht? Und behält die durchschnittliche Leserin dieses Artikels nur 10 %, obwohl sie vermutlich alles versteht?

Wenn wir uns an 75 % dessen erinnern, was wir anwenden, wieso brauchen die meisten Männer auch beim zwanzigsten Mal noch YouTube, wenn sie sich eine Krawatte binden müssen? Sollten wir Vorlesungen und Bücher im Medizinstudium abschaffen und Studentinnen lieber direkt am offenen Herzen operieren lassen? Und wie hängt das alles mit den 8 Sekunden zusammen, die uns für konzentriertes Lernen ja nur zur Verfügung stehen? 

An wie viel wir uns erinnern können, hängt von unserem Vorwissen, unserer Gedächtnisleistung, der Aufbereitung der Inhalte, der Lernumgebung und Dutzenden anderen Faktoren ab.

Der „Präzise-Nummer-Mythos“

Der „Runde-Zahl-mit-Graph-Mythos“ hält sich deswegen so erfolgreich, weil er uns verspricht, eine komplizierte Welt einfach zu machen.

Eine Variation dieses Typs ist der „Präzise-Nummer-Mythos“: Wo die Lernpyramide die Welt in einen netten Graphen mit runden Zahlen verpackt, nutzt dieser Typ präzise Zahlen und wirkt deswegen wissenschaftlich. In Vorträgen sollen wir zum Beispiel darauf achten, dass „93 % aller Kommunikation nonverbal ist“: Viel mehr als durch die Worte selber wird angeblich durch Stimmlage, Körpersprache und Mimik transportiert.

Dass Worte selber nur 7 % unserer Kommunikation ausmachen, eröffnet neue Perspektiven: Auslandsreisen werden wesentlich einfacher, wenn wir von vornherein über 90 % dessen verstehen, was der Taxifahrer uns erzählt. Der Markt für DeepL, Google Translate und Langenscheidt ist deutlich kleiner als bislang angenommen. Die Aussage „Die Deadline ist morgen“ enthält im direkten Gespräch 13-Mal so viel Inhalt wie in einer E-Mail. Und wie lässt sich das mit den Prozentzahlen der Lernpyramide vereinbaren?

Natürlich ist auch die Aussage, dass 93 % aller Kommunikation nonverbal ist, Quatsch.

Anders als die Lernpyramide aber, die tatsächlich von Anfang an keinen Sinn machte, handelt es sich hier eher um eine Verfälschung der eigentlichen Forschung. In der ging es in einem sehr spezifischen Kontext darum, wie Menschen mit einem Widerspruch zwischen gesagtem Inhalt und wahrgenommener Emotion umgehen. Hier vertrauten die Versuchspersonen tendenziell eher den nonverbalen Signalen als den Worten selbst.

Der „Horoskop-Mythos“

Der häufigste Typ Lernmythos ist aber wahrscheinlich der „Horoskop-Mythos“: Er bedient unser Bedürfnis, als Personen gesehen zu werden und unsere Neigung, allgemeine Aussagen auf uns zu beziehen (Barnum-Effekt).

Der bekannteste Horoskop-Mythos ist gleichzeitig der größte Lernmythos überhaupt: das Lerntypen-Modell. Demnach sind Menschen meist entweder „auditive“, „visuelle“ oder „kinästhetische“ Lerner, die am besten lernen, wenn sie entsprechend ihres individuellen „Typs“ lernen – also über das Gehör, den Sehsinn oder Bewegung.

Wenn wir uns einen Schaltkreis einprägen sollen, tun manche von uns das also am besten, indem sie jemand anderen den Plan beschreiben lassen; andere dadurch, indem sie ihn tanzen, und nur ein Drittel dadurch, dass sie sich den Plan einfach angucken. Schwimmen lernen auditive Lerner am besten über Podcasts, und das englische „th” eignen sich visuelle Lerner besonders effektiv an, indem sie Diagramme der korrekten Zungenposition studieren. 

Die Aussagen, die Horoskop-Mythen treffen, fühlen sich oft offensichtlich korrekt an, unter anderem deswegen, weil wir uns, wie in Horoskopen, in ihnen wiederfinden: Ich höre gerne Podcasts, ich bin wohl ein auditiver Lerner. Leider sind Vorlieben und Lernerfolg nicht das gleiche: „Auditive“ Lerner können sich Audioinhalte nicht besser merken als vermeintliche „visuelle“ oder „kinästhetische“ Lerner, die wiederum nicht besser darin sind, sich auf „ihre“ Weise Dinge zu merken.

Wie Inhalte am besten präsentiert werden, wie lang unsere Aufmerksamkeitsspanne ist, oder wie viel wir uns von einem gelesenen Text merken, sind alles Fragen aus der Kategorie „Wie lang ist ein Stück Schnur?“. Die Antwort ist immer die gleiche: Es kommt darauf an. 

Was Lernen wirklich effektiv macht

Zum Glück wissen wir aber vieles darüber, was Lernen und Unterrichten effektiv macht:

All diese Erkenntnisse sind zwar weder überraschend noch passen sie in einfache Graphen oder teilen uns in saubere Kategorien ein. Allerdings haben sie einen Vorteil: Es sind keine Mythen, sondern Wahrheiten.

Du willst tiefer in die L&D-Welt eintauchen? Dann entdecke unsere L&DeepDive Videokurse.

Jetzt kostenlos anschauen
Handbook

Return on Learning

Erfahre, wie du den Effekt von Weiterbildungen für dein Unternehmen und deine Mitarbeitenden ermitteln kannst.

Jetzt herunterladen
Table of Contents

Weitere Artikel