In einer Welt, in der das Wissen der Menschheit so leicht zugänglich ist wie nie zuvor, stellt sich die Frage: Wie können wir am besten lernen? Masterplan Blogautor Manfred Rump spricht im Video-Interview mit Masterplan Lead Instructional Design Kolja Wohlleben über Lernen in Zeiten von ChatGPT und die größten Lernmythen, die effizientem Lernen in Unternehmen häufig im Weg stehen.
Lernmythos 1: Gibt es unterschiedliche Lerntypen?
Visueller, auditiver, kinästhetischer oder kommunikativer Typ? Viele haben schon von diesen „Lerntypen” gehört. Die Idee dahinter ist, dass jeder Mensch auf eine bestimmte Art und Weise am besten lernt.
Demnach soll etwa eine visuelle Lernerin Informationen am besten aufnehmen können, wenn sie in Form von Bildern oder Grafiken präsentiert werden. Ein auditiver Lerner hingegen soll besser lernen können, wenn ihm Informationen vorgelesen oder vorgesprochen werden.
Kolja Wohlleben sieht diese Einteilung kritisch und sogar gefährlich: „Es gibt Umfragen unter Pädagogen, von denen bis zu 90 Prozent an diese Lerntypen glauben und sie auch in der Praxis anwenden.”
Was laut Kolja zunächst einmal stimmt: Natürlich hätten wir alle Präferenzen und Talente, die uns helfen können, bestimmte Arten von Informationen besser aufzunehmen und zu behalten.
Ein Beispiel sei etwa ein perfektes Gehör, das es einfacher mache, sich Melodien oder Geräusche zu merken. Eine bessere räumliche Vorstellungskraft hingegen könne helfen, Landkarten besser zu verstehen.
Allerdings stellt Kolja klar: „Lerntypen sind wissenschaftlich widerlegt. Es gibt wahnsinnig viele Studien, in denen das untersucht wurde.” Dabei würden die Lernende Lernmaterialien gemäß dem angegebenen Typ erhalten, mit denen sie für einen Test lernen.
In dem Test würden die Probanden allerdings keinesfalls besser abschneiden. Das Zuteilen von Lernmaterialien nach Lerntyp mache also keinen Unterschied in puncto Lernerfolg!
„Die Gefahr ist, dass Menschen die eigenen Präferenzen mit einer effizienten Lernmethode verwechseln. Das ist nicht immer das Gleiche.” Vielmehr gelte der Grundsatz: Die Mischung macht’s bzw. multimodales Engagement.
„Wenn wir mehrere Pfade in unserem Gehirn gleichzeitig ansprechen, ist es wesentlich leichter für uns, die Information zu verarbeiten und sich Dinge zu merken.”
Das gelte für analoge und digitale Lernformen zugleich, und eben auch für Blended Learning: Wichtig sei, etwa bei einem Workshop nicht nur dazustehen und zu erzählen, sondern verschiedene Modi zu bedienen; oder bei einem Videokurs zentrale Aussagen mit Texteinblendungen, Bildern usw. anzureichern.
Statt Lernen auf vermeintliche Lerntypen auszurichten, sei es vielmehr wichtig, „möglichst viele verschiedene Wege zu haben, um dieselbe Information zu überbringen.”
Lernmythos 2: Wird Lernen durch ChatGPT unwichtig?
In einem Interview hat der CEO von Google, Sundar Pichai, die Künstliche Intelligenz (KI) einmal als eine der wichtigsten Erfindungen des Menschen seit dem Feuer bezeichnet.
Kolja unterscheidet zwischen kurzfristigen und langfristigen Auswirkungen von ChatGPT und KI im Kontext Lernen: Aktuell würde ChatGPT oftmals noch „halluzinieren”, das bedeutet: Die Antworten von ChatGPT seien nicht frei von falschen Behauptungen.
Umso wichtiger sei es laut Kolja, über ein breites Wissen und tiefes Interesse an verschiedenen Themen zu verfügen, denn nur so kann man kritisch hinterfragen, was einem präsentiert wird und falsche Informationen erkennen.
Langfristig stellt sich für Kolja die Frage, wofür diese Modelle genutzt werden sollen. Nur wenn man offen für Neues bleibt und geistig flexibel bleibt, kann man die Vorteile neuer Technologien nutzen. Wie schon in der Vergangenheit werden diejenigen, die offen für Veränderungen sind, am meisten von neuen Technologien profitieren.
Das Lernen wird also auch in Zukunft eine Schlüsselrolle spielen, um KI-Kompetenzen aufzubauen und mit der sich schnell entwickelnden Technologie Schritt zu halten. Doch dabei geht es nicht nur um das Erlernen von Fakten, sondern auch um die Fähigkeit, kritisch zu denken und offen für Veränderungen zu sein.
„Die Menschen, die in der Lage sind, sich eine Offenheit für Neues und eine geistige Flexibilität zu bewahren, sind auch diejenigen, die am Ende am meisten von neuer Technologie profitieren werden.”
Wie ChatGPT beim Lernen unterstützen kann
Laut Kolja gibt es unterschiedliche Bereiche, in denen Lernende und L&D-Manager:innen in Unternehmen ChatGPT auch proaktiv zur Lernunterstützung nutzen können.
Für Lernende kann ChatGPT als individualisierter Tutor eingesetzt werden, der beispielsweise während eines Kurses zurate gezogen werden kann, um Wissenslücken zu einem grundlegenden Konzept aufzufrischen, das in dem jeweiligen Kurs vorausgesetzt wird.
Gleichzeitig könne man es laut Kolja auch einsetzen, um Eigenwissen zu überprüfen und sich selbst zu fordern, etwa mit folgendem Prompt:
Ich glaube, ich habe Thema X super gut verstanden, aber ich bin mir nicht so ganz sicher. Stelle mir mal ein paar Fragen und bewerte die mal.
Wenn man es schlau anwendet, würden laut Studien die eigene Produktivität und Kreativität eine wahnsinnige Effizienzsteigerung bekommen, so Kolja.
Wie L&D-Manager:innen ChatGPT nutzen können
Als Trainingsdesigner:in könne man nicht Experte für alle Themen sein. Deshalb würde man sich normalerweise mit den jeweiligen themenspezifischen Expert:innen, den sogenannten Subject Matter Experts, aus dem Unternehmen zusammensetzen, um Inhalte eines Kurses zu sondieren. Das werde laut Kolja durch ChatGPT wahnsinnig erleichtert.
Für einen möglichen Kursaufbau hat Kolja bereits ChatGPT konsultiert. Das Ergebnis?
„Erste Vorschläge, wie man so einen Kreativitätskurs aufbauen und was da für Lerninhalte drin vorkommen könnten – auch wirklich konkrete Modelle. Man muss da schon noch polieren und selber natürlich nochmal nachbessern, aber das hätte mich sonst viel Zeit gekostet, dann auch zu recherchieren und zu gucken: Sind das auch valide Sachen?”
Darüber hinaus sind natürlich keine kreativen Grenzen, wie KI in der Personalentwicklung unterstützen kann. Vom Input für interaktive Lernformate über die Gestaltung von Präsentationen bis hin zur Erstellung und Auswertung von Schulungsevaluationen kann die Künstliche Intelligenz L&D-Aufgaben übernehmen. Wichtig ist nur: Man muss anfangen, diese Hilfe auch zu nutzen!
Lernmythos 3: Ist die 70:20:10-Regel wissenschaftlich fundiert?
Das 70-20-10-Modell des Lernens wird oft so interpretiert, dass man aus drei Quellen lernt, wobei formales Lernen nur 10 Prozent ausmacht, der direkte Austausch mit Kollegen und Kolleginnen (auch: Social Learning) 20 Prozent und das fast unbewusste Lernen durch Erfahrung 70 Prozent.
Allerdings sollte man bei solch einfachen Modellen skeptisch sein, insbesondere wenn sie wie eine Pyramide aufgebaut sind und sich einfach vermarkten lassen, so Kolja. Das Hauptproblem mit diesem Modell sei, dass es impliziert, dass man sich entweder auf eine dieser Lernformen konzentrieren sollte oder aber dass sie unabhängig voneinander betrachtet werden können.
In Wirklichkeit sind die verschiedenen Lernformen viel komplexer miteinander verwoben. Formales Lernen kann genauso wichtig sein wie informelles Lernen durch Erfahrung, und es gibt viele Wege, um sich Fähigkeiten anzueignen. Das 70-20-10-Modell ist daher zu einfach, um alle Aspekte des Lernens zu erfassen.
Ein formeller Anstoß – angeblich nur 10 Prozent – sei wahnsinnig wichtig und in vielen Fällen eine Grundvoraussetzung beim Lernen. Kolja macht das an einem Beispiel fest:
Bessere Feedback-Fähigkeiten ließen sich nicht zwangsläufig nur durch das „Doing” erzielen. Es brauche in diesem Fall erst die formale Vermittlung neuer Feedback-Techniken, um positive Lerneffekte im Arbeitsalltag zu erreichen.
Und außerdem, so Kolja: Die 70-20-10-Regel beruhe auf einer Umfrage unter ein paar Hundert Führungskräften in den 80er und 90er Jahren. Diese Umfrageergebnisse wurden retrospektiv in drei Kategorien eingeteilt und daraus entstand die besagte Regel, die bis heute Bestand hat.
Informelles und formelles Lernen seien wichtige Komponenten, das 70:20:10-Modell werde der flexiblen Gewichtung und Verzahnung in der Praxis allerdings bei weitem nicht gerecht.
Mythen widerlegt: Lerntypen, KI und 70:20:10-Regel
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass
- es keine wissenschaftlich belegten Lerntypen gibt,
- die 70-20-10-Regel lediglich auf einer retrospektiven Umfrage basiert und in ihrer Aussagekraft damit äußerst fragwürdig ist,
- ChatGPT und Künstliche Intelligenz kein Ende des Lernens bedeuten. Im Gegenteil: Kritisches Denken wird essenziell wichtig, um neue Technologien erfolgreich zu nutzen und Programme wie ChatGPT lassen sich schon heute dafür einsetzen, Lernen zu unterstützen – sowohl auf Seiten der Lernenden als auch auf Seiten von Trainingsdesigner:innen und L&D-Manager:innen in Unternehmen.
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